Gedichte 1945 bis 1952


Wie manche andere Schriftsteller begann auch ich in jugendlichem Alter, Gedichte zu schreiben. Für mich bedeuten sie eine Erinnerung an glücklicherweise vergangene Zeiten.

Beschwörung

Dämmerndes Dunkel,
Zittern und Weben.
Flüstern. Gemunkel.
Schatten, die leben.

Fließendes Grau
wirbelt, spiralt.
Mondweiße Frau,
werde Gestalt!


Wetterdienst

Die Nacht war schwarz. Der Uhu rief.
Im Donauraume saß ein Tief.

Ein Ibich stand am Waldesrand
mit einem Fernrohr in der Hand.

Der erste schwere Tropfen fiel.
In Wipfeln trieb der Wind sein Spiel.

Es wogte wild der Wolkensee.
Der Ibich starrte in die Höh.

So sann er spät am Heimweg noch:
Warum sitzt dieses Tief so hoch?


Geist

Wer Geist hat, macht davon Gebrauch.
Wer nicht, versucht dies meistens auch.


Flucht

Der Folterknecht hält mit der Zange
ins Feuer eine Eisenstange.

Der Mörder brummt im Hungerturm.
Im morschen Holze nagt der Wurm.

Da schlüpft der Mörder wie ein Schneck
durchs Gitterfenster und ist weg.

Der Scherge aber sitzt am Feuer
und brät im Stahlhelm Spiegeleier.


Kreislauf

Wer auf dem Häuschen sitzt und frißt,
beweist, daß Leben Kreislauf ist.


Herbstfreuden

Die Kinder lassen Drachen steigen.
Die Fichte wedelt mit den Zweigen.

Die feinen Herren gehen jagen.
Die Mütter schieben Kinderwagen.

Im Park trifft man die Pensionisten,
sie spielen Schach auf Seifenkisten.

Ein Bub nascht aus der Honigschüssel
und wünscht sich einen langen Rüssel.


Der Kragen

Der Kragen ist oft reiner als
der unter ihm verborgne Hals.


Vogelscheuche

Bei der alten Eiche
steht die Vogelscheuche.

Lange bleib ich stehn,
sie mir zu besehn.

Eine müde Krähe
krächzt ganz in der Nähe.

Mir fällt auf: Ich gleiche
dieser Vogelscheuche.


Tierschau

Das Neptunschwein, das Ungeheuer,
schleift seine Stacheln am Gemäuer.

Der Marsgepard hebt seine Klaue
und zerrt am Draht der Drahtverhaue.

Der Merkurhecht im Schwefelbecken
spielt mit dem Publikum Verstecken.

Den Saugnapf schwenkt der Venuspudel -
man füttert ihn mit Apfelstrudel.

Am Eingang debattiert Herr Meier:
der Eintrittspreis ist ihm zu teuer.


Australische Hitze

Ohne Strümpfe, ohne Schuh
hüpft einher das Känguru.

Ohne Hose, ohne Hut
eilt es durch die Sonnenglut.

Ohne Hemd und Camisol
fühlt es sich ganz hündisch wohl.

Mensch, du laß den Kragen zu,
du bist doch kein Känguru.


Herbst

Nun hält der Herbst die Zügel in der Hand,
er zieht sie straff und läßt sobald nicht locker.
Er färbt die Ahornblätter grell mit Ocker
und schickt die Schwalben in ein fernes Land.

Der Wind erwacht, die Bäume werden kahl,
ein Zeitungsblatt entwischt auf krausen Bahnen.
Die Badewärter lesen in Romanen,
und von der Alm treibt man das Vieh zutal.

Der letzte Lehrer kommt vom Urlaub heim.
Die Straßenkehrer rackern sich zutode.
Man kritisiert die neue Damenmode
und geht ihr nachher trotzdem auf den Leim.

Der Regen fällt wie durch ein großes Sieb.
Ein Freilichtzirkus spielt vor leeren Stühlen.
Mein Sonnenbrand ist längst nicht mehr zu fühlen;
er war das letzte, was vom Sommer blieb.

Schon sind die lichten Stunden eingeschränkt,
die grauen Schatten lauern in den Ecken
und spielen mit dem trüben Licht Verstecken.
Die Nacht kommt meistens früher als man denkt.


Willensfreiheit

Der Mops zieht hin, die Frau zieht her,
der Wille beider läuft konträr.

Und beide kommen nicht von Ort,
die Frau zieht hier, der Mops zieht dort.

Die Leine hängt im Zwischenraum.
Der Köter strebt zu einem Baum.

Die Dame will zu einer Bank.
(Aus andern Gründen, Gott sei Dank!)

Gewinnt der Mops, gewinnt die Frau?
Genaues weiß man nicht genau.


Winter

Jetzt zeigt der Winter wieder seine Zähne,
die Luft ist glasig kalt und riecht nach Rauch.
Gesprochnes Wort erstarrt zu einem Hauch.
In Stroh gehüllt sind Wasserleitungshähne.

Im Park stehn Tafeln, die vor Glatteis warnen.
Wenn man sie sieht. Man sieht sie meistens nicht.
Die Menschen tragen Schatten im Gesicht.
Sie gehn vermummt, als wollten sie sich tarnen.

Der feuchte Schnee klebt knollig an den Sohlen.
Die Nase rinnt. Die Brillen laufen an.
Man streift die Füße ab, so gut man kann,
und schleppt am Tage vier- bis fünfmal Kohlen.

Am Abend erst vergißt man seine Sorgen.
In Filzpantoffeln sitzt man am Kamin.
Wenns draußen läutet, hört man gar nicht hin.
Die Nacht kommt früh. Und früh genug der Morgen.

Von feuchten Kleidern tropft es auf die Diele.
Und weiter nimmt der Winter seinen Lauf.
Die Jahreszeiten wechseln wie im Spiele.
Man sinnt und denkt und kommt zu keinem Ziele.
Man wartet. Aber niemand weiß, worauf.


Die Schillerbüste

Bei einer Düne, in der Wüste,
steht eine weiße Schillerbüste.

Man trug sie weit durch kahles Land.
Warum, das wurde nicht bekannt.

Doch hatte jener, der sie trug,
auf einmal von Kultur genug.

Das Schleppen wurde ihm zu dumm -
er stellte in den Sand das Trumm.

So schillert hier die Gipsfigur
als Zeuge westlicher Kultur.


Frühling

Der Winter ist vorbei, der Schnee hat sich verkrochen,
ein warmer Wind bläst seine Backen auf.
Nun kommt der Frühling dran und bleibt auch ein paar Wochen.
Da nimmt man einen Schnupfen gern in Kauf.

Man setzt sich nach dem Dienst auf feuchte Mauerränder
und nimmt - auch wenn es regnet - keinen Hut.
Der Frühling ist ja da, so steht es im Kalender.
Man macht die Fenster auf. Und das ist gut.

Schon wird es früher hell, vom Schulhaus hört man Lieder,
im Gasthausgarten gibt es wieder Bier.
Die Kinder machen Lärm, die Frauen lachen wieder
und stehen wieder an der offnen Tür.

Das letzte Winterobst verkauft man auf den Karren.
Die erste warme Sonne scheint aufs Dach.
Man fühlt sich wieder jung. Und schilt sich einen Narren.
Und sieht dann doch den jungen Mädchen nach.

Der Ofen schwelt und pafft. Der Frühling ist im Lande.
Es wäre sicher richtig sich zu freun.
Das will man gerne tun, doch bringt mans nicht zustande.
Man ist nur müd und sieht das nicht recht ein.


Der Hut

Ob Doktorhut, ob Narrenmütze,
der Kopf dient beiden nur zur Stütze.


Ziegelteich

Die alte Ziegelei
ist lange schon Ruine.
Die Eißengießerei
zieht eine saure Miene.

Ein Schuttberg macht sich breit.
Am Abhang stehn Draisinen.
Die Schwellen sind verstreut,
verrostet sind die Schienen.

Am Ziegelteich beim Schmied,
dort gähnt die Erde offen.
Da ist eine Invalid
vor kurzer Zeit ersoffen.

Aufs Wasser senkt sich mild
die Asche aus den Schloten.
Am Ufer steht ein Schild:
Das Baden ist verboten.


Phosphor

Ob Hirnsubstanz, ob Düngerkreise,
im Phosphor liegt die Kraft für beide.


Gedenkschrift

Augustus semper semperit
de radio radione.
Dynamo amo dynamit
cum cornu hornyophone.

Odeon audio odol
nunc nole linoleum -.
salut salami lux lysol
de dora dorotheum.


Sommer

Nun läuft der Sommer schon auf vollen Touren;
er heizt uns ein, das Thermometer steigt.
Die Butter schmilzt, und die Statistik zeigt,
daß viele Tausend an die Nordsee fuhren.

Dort ist es kühl. Man spielt mit Wasserbällen.
Und mit den Kindern, wenn man Kinder hat.
Die andern aber bleiben in der Stadt.
Hier regt sich nichts. Nur der Asphalt schlägt Wellen.

Die Zeit hat Zeit. Es ist, als ob sie schliche.
Wer im Büro sitzt, tut sich selber leid.
Ein unbestimmtes Sehnen macht sich breit.
Der Rundfunk meldet sechzig Sonnenstiche.

Wie schon erwähnt: Die Zeit hat keine Eile,
sie bricht die Bahn sich monoton und stet.
Und es ist nicht zu früh und nicht zu spät,
wenn dann der Sommer schließlich wieder geht,
mit ihm die Sehnsucht und die Langeweile.


Vor dem Fest

Am Düngerhaufen kräht der Hahn:
Am Sonntag fängt die Kirchweih an.

Der Biertransport ist längst erledigt.
Der Pfarrer schreibt an seiner Predigt.

Der Hund vom Fleischer fletscht die Zähne.
Im Dorfteich schwimmen Sägespäne.

Im Kuchenbottich wühlt der Koch.
Der Kirchturm streckt den Finger hoch.

Er steht so schief wie der von Pisa,
nur ist er nicht berühmt wie dieser.

Die Ochsen rasseln mit den Ketten
und haben schwärzliche Manschetten.

Der Bürgermeister nimmt das krumm.
Die Ochsen kümmern sich nicht drum.

Am Sportplatz, an versteckter Stelle,
übt der Flötist der Dorfkapelle.


Der Lehrer

Der Lehrer ist in seinem Leben
von dummen Schülern stets umgeben.

Er läuft herum und schwingt das Rohr.
Er wirft die Dummheit ihnen vor.

Das halte ich für reinen Hohn,
denn schließlich lebt er doch davon.

Die allgemeine Indolenz
gibt ihm erst Recht auf Existenz.


Aufruhr im Klassenzimmer

Gemächlich rückt der Zeiger vor,
die Abendstunde graut,
da rülpst das Heißluftheizungsrohr
mit einem dumpfen Laut.

Die leise Unterhaltung stockt -
das ist hier nicht so Brauch!
Die Lampe, die im Winkel hockt,
errötet bis zum Bauch.

Dem Thermometer an der Wand
steigt jäh das Blut ins Hirn.
Der Tafelschwamm kommt angerannt
und runzelt stumm die Stirn.

Das Fensterkreuz die Schultern zuckt -
es macht sich nichts daraus.
Das Tintenfaß hingegen spuckt
in weitem Bogen aus.

Da sagt das Heißluftheizungsrohr
in seinem frechsten Ton
(es kommt sich scheinbar wichtig vor):
Ach so, Pardon, Pardon!


Idyll

Stumm zählt die Tage der Kalender.
Das Rheuma plagt den Kleiderständer.

Der Wasserhahn hat Nasenbluten.
Das Dampfventil beginnt zu tuten.

Der Stiefel ächzt im Speiseschrank.
Sein Maul steht offen; er ist krank.

Im Blechnapf, zwischen Kochgeräten,
lernt eine Knackwurst Wassertreten.


Teuflisches

Ein Stabsgefreiter fuhr zur Hölle.
Dort schrie er: "Melde mich zur Stelle!"

Da sprach der Teufel: "Lieber Herr,
hier sind wir nicht beim Militär."

Drauf rief der Landser stramm und schnell:
"Jawohl, verstanden, zu Befehl!"

Der Teufel fragte: "Guter Mann,
was fang ich nur mit Ihnen an?"

Der aber schrie aus voller Kehle:
"Ich bitt gehorsamst um Befehle!"

Der Teufel überlegte lang,
ihm war um seine Ruhe bang.

So schickte er ihn bald darauf
zur Erde wiederum hinauf.

Dort sieht man heute noch ihn ziehn,
wie ihn die Hölle ausgespien.


Aussicht

Der Mond bescheint die Felsenrampe
wie eine Doppelwendellampe.

Dahinter wellt sich Feld und Wald
in rumpelähnlicher Gestalt.

Gen Nord sind Berge aufmarschiert,
am obern Teil mit Eis verziert.

Das graue Land liegt da als wie
ein altes Nachthemd in der Früh.



Die Auswahl aus meinen alten Gedichten ist hiermit abgeschlossen. Danach habe ich nur noch einmal Gedichte geschrieben - assoziative Texte zu den "Weltraumbildern" von Andreas Notteboom, die im Buch "Astropoeticon" erschienen sind. Sie wurden von Walter Haupt als Basis der Musik verwendet, die er für die gleichnamige Videoproduktion von Manfred P. Kage geschrieben hat.