Die physikalische Welt - ein Automat

Herbert W. Franke


Zellulare Automaten eignen sich einerseits zur Simulation verschiedener naturwissenschaftlicher, insbesondere physikalischer Prozesse, können aber andererseits auch zur abstrakten Nachbildung aller Arten von Computern dienen, woraus sich eine bemerkenswerte Verbindung zwischen Physik und Automatentheorie ergibt. Diese Zusammenhänge erweisen sich als aufschlußreich für den im folgenden beschriebenen Versuch, zellulare Automaten als Modelle für den physikalischen Weltablauf zu verwenden. Auf ihrer Basis lassen sich auf die einfachstmögliche Weise Eigenschaften unserer Welt diskutieren. Es geht dabei weniger um Simulationen bestimmter Naturgesetze, als um das allgemeine Prinzip, das hinter ihren Wirkungen steckt. Durch die Wahl der Algorithmen lassen sich lokale und kausale Bedingungen wie auch beliebige Abweichungen davon auf bildhafte Weise erfassen. Ähnliches gilt für das Problem des Determinismus, wobei sich zwischen vorausberechenbaren und zufallsbestimmten Prozessen noch eine dritte Möglichkeit ergibt, nämlich jene deterministischer, aber nicht voraussagbarer Abläufe. Alle diese Charakteristika unserer Welt kann man speziell auch unter dem Aspekt der Strukturierbarkeit betrachten: Offenbar sind unsere Naturgesetze so beschaffen, daß sie die Bildung einer Vielfalt von relativ beständigen Strukturen zulassen.


Die Idee der zellularen Automaten geht auf John von Neumann zurück. Bei seinen Arbeiten stand die Idee eines abstrakten Computers im Vordergrund, der die Eigenschaft der Universalität haben sollte, und das bedeutet die Fähigkeit, das Konzept für jeden beliebigen Computer aufzubauen und speziell auch sein eigenes zu reproduzieren - dahinter steckte die Frage, ob sich auf diese Weise nicht auch die Selbstreproduktion der Lebewesen verstehen ließe [1]. Im übrigen stammt die Idee, diese Vorstellung durch die Verteilung von Zuständen auf einem grafischen Raster darzustellen, vom Mathematiker Stanislaw Ulam. Das von John von Neumann vorgeschlagene System (das noch einen kleinen, von Nachfolgern beseitigten Fehler enthielt) war äußerst kompliziert; später wurden einfachere Lösungen gefunden. Auch das von John Horton Conway erfundene "Spiel des Lebens" [2] erwies sich als universaler zellularer Automat.

Einen entscheidenden Fortschritt leitete Stephen Wolfram ein, und zwar durch den Beweis, daß alle mit einem quadratischen Zellraster erfaßbaren Systemeigenschaften auch in linearen Anordnungen - in Form von Zeilen - auftreten können; damit hatte er die prinzipiell einfachste Art eines zellularen Automaten gefunden [3,4].

Die linearen zellularen Automaten lassen sich in Bezug auf ihr Verhalten in vier Klassen einteilen.

Klasse 1: Nach einer endlichen Zahl von Schritten ergibt sich ein homogener Endzustand - die Auffüllung oder auch Entleerung der Zeilen.

Klasse 2: Anfangs entstehen lokale einfache Muster, die manchmal in senkrechte Streifen übergehen; diese können auch aus sich ständig wiederholenden kurzen Zyklen bestehen.

Klasse 3: Die Zustände verbreiten sich scheinbar regellos, immer wieder treten typische Muster auf.

Klasse 4: Die in dieser Klasse ablaufenden Prozesse hängen stark von den Anfangsbedingungen ab; dabei können sich Verhaltensweisen einstellen, wie sie für die vorher beschriebenen Klassen von Automaten charakteristisch sind. Gelegentlich sind die Strukturen instabil und aperiodisch. Insbesondere können bei den Automaten dieser Klasse auch seitlich versetzte Muster, also schiefe Streifen, entstehen. Vermutlich sind in dieser Klasse universale Automaten zu finden.

In allen vier Fällen muß ein unbeschränkter Zellenraum angenommen werden, so daß das Wachstum unbehindert vor sich gehen kann.- anderenfalls müßte es früher oder später zwingend zu Wiederholungen kommen. Im übrigen stützt sich die Einteilung in vier Klassen eher auf heuristische Gesichtspunkte; erst später hat Ch. G. Langton einen Parameter gefunden, von ihm als Lambda bezeichnet, der mit steigender Klassennummer ansteigt. Lambda quantifiziert die Wahrscheinlichkeit des Überlebens einer Zelle beim Übergang zu nächsten Generation [5].

Turing-Maschine und Gödel-Prinzip

Da sich mit universellen zellularen Automaten alle Arten von Automaten simulieren lassen, trifft das im Besonderen auch für die Turing-Maschinen zu [6]; dadurch ergibt sich ein Zusammenhang mit einer der tiefsten mathematischen Fragen, nämlich mit der Frage der unlösbaren Probleme der Mathematik. Kurt Gödel konnte mit einer komplizierten logischen Ableitung den Beweis dafür antreten, daß es in der Tat prinzipiell unlösbare mathematische und logische Aufgaben gibt. Durch den von Alan Turing beschriebenen abstrakten Automaten, der in seiner allgemeinsten Form ebenfalls die Eigenschaft der Universalität aufweist, kann man denselben Beweis auf eine weitaus anschaulichere Weise antreten: Jeder auf die Lösung eines Problems gerichtete Rechenprozeß kann durch einen Turingschen Automaten simuliert werden, und unlösbare Probleme sind dadurch zu erkennen, daß der Ablauf nie zu einem Ende kommt. Durch die Reihe von Äquivalenzen, die vom Gödel-Prinzip über die Turing-Maschine zu den zellularen Automaten reicht, übertragen sich grundlegende Eigenschaften der Mathematik auf die Funktion von Automaten und damit auch auf alles, das sich durch sie simulieren läßt - etwa die Wechselwirkungen zwischen physikalischen Objekten.

Ein spezielles Beispiel dafür ist die Frage der Voraussagbarkeit von logisch-mathematisch erfaßbaren Prozessen. Zur Klärung der Frage, ob ein mathematisches Problem lösbar ist oder nicht, gibt es keine allgemeine Vorgehensweise - die einzige Möglichkeit, diese Aufgabe zu bewältigen, besteht darin, eine (beispielsweise durch Probieren gefundene) Lösung anzugeben. Setzt man die Turing-Maschine auf ein solches Problem an, dann sind ihre Zustände somit nicht vorausberechenbar, obwohl sie deterministisch ablaufen.

Zellulare Weltmodelle

Man hat die zellularen Automaten auf alle möglichen Probleme angewandt, unter anderem zur Klärung von mathematischen Fragen, zur Nachbildung von Automaten und zur Simulation naturwissenschaftlicher, beispielsweise evolutionärer, Prozesse [7,8]. Als aufschlußreich erwiesen sie sich bei der modellhaften Erfassung physikalischer Abläufe. Mehrere Arbeiten waren einer "digitalen Mechanik" gewidmet ; Ed Fredkin konnte zeigen, daß Systeme klassisch-mechanischer Teilchen zellularen Automaten äquivalent sind [9]. Zellulare Automaten dienten später dazu, verschiedene Arten von Strukturierungsprozessen nachzuahmen, u.a.die Bildung der Verteilungen, die bei Strömungen und Diffusion entstehen. Weiter trugen sie zur Klärung der Frage bei, wie Muster in der lebenden Natur entstehen.

 Der Erste, der mit der Idee des "Rechnenden Raums" an die Öffentlichkeit trat, war Konrad Zuse. Nach seiner These könnten sich die Elementarteilchen als submikroskopische Computer erweisen, die miteinander in Wechselwirkung treten und dabei die bekannten physikalischen Erscheinungen hervorrufen [10].. Speziell für solche, die durch Differentialgleichungen beschreibbar sind, läßt sich zeigen, daß sie sich nach dem digitalen Schema der zellularen Automaten nachbilden lassen [11].

Die Versuche zur direkten digitalen Modellierung physikalischer Prozesse , z.B. der Wellenausbreitung, muten umständlich und wirklichkeitsfremd an. Dagegen scheint es aussichtsreicher, aufgrund der Analogie zwischen dem Wirkungsgefüge der Physik und den zellularen Automaten grundlegende Ordnungsprinzipien in unserem Universum zu untersuchen. Die Überlegung geht von folgendem Ansatz aus: Wenn die physikalische Welt überhaupt mathematisch beschreibbar ist, dann muß sich auch ihr gesamter Ablauf durch einen (vielleicht sehr komplizierten) zellularen Automaten erfassen lassen. Bestimmte allgemeine Eigenschaften, die für alle zellularen Automaten gelten, sind dann auch für die gesamte Welt gültig [12]. Und im besonderen müssen in ihr (zumindest) alle Strukturierungsmöglichkeiten gegeben sein, die sich auch in den kleinsten zellularen Automaten bieten. Während es also für die Nachbildung bestimmter Prozesse gewisse Einschränkungen gibt, lassen sich über das gesamte System der Naturgesetze und ihrer Funktion allein durch den Vergleich mit den kleinstmöglichen modellhaften Nachbildungen gültige Aussagen machen.

Lokalität und Kausalität

Die in den Programmen für zellulare Automaten auftretenden Algorithmen entsprechen den physikalischen Grundgesetzen. Sie sind in ein Programm eingebettet, das festlegt, in welcher Weise sie angewandt werden [13]. In seinem Aufbau ist dieses Programm außerordentlich einfach, und zwar nicht nur wegen der auf ein Minimum von Zuständen und funktionalen Zusammenhängen beschränkten Regeln, sondern auch dadurch, daß diese von Anfang bis Ende des Ablaufs ungeändert beibehalten werden. Dieses Prinzip entspricht der einigermaßen gefestigten Erkenntnis der Physik, daß sich ihre Grundgesetze seit dem Anfang unseres Universums nicht geändert haben. Da bei jedem Schritt die neue Zustandsverteilung derselben Gesetzmäßigkeit unterworfen wird, kann man den Ablauf mathematisch als einen iterativen Prozess betrachten.

Ebenso wie die zeitliche ist auch die räumliche Konstanz vorausgesetzt, denn allem Anschein nach gelten im gesamten Weltraum dieselben Naturgesetze. Eine Ortsabhängigkeit ließe sich ohne weiteres in das Programm einbeziehen, erscheint aber beim heutigen Kenntnisstand unnötig.

Zwei weitere offenbar gültige Grundsätze des physikalischen Geschehens sind von vornherein in das Konzept des zellularen Automaten einbezogen. Dadurch daß stets nur benachbarte Zellen Einfluß auf den Zustand der nächsten Generation nehmen, haben wir es mit sogenannten lokalen Gesetzen zu tun; es gibt keine Fernwirkungen, jeder Einfluß von einer Zelle zur anderen läuft über eine Beeinflussung der unmittelbar benachbarten Gruppen. Im konkreten Fall konnte man zeigen, daß eine Art Nachrichtenübermittlung in den zellularen Automaten möglich ist, beispielsweise dadurch, daß sich aus einem Zellverband eine Gruppe löst und als eine Art Zyklus durch Raum und Zeit wandert. Diese Situation entspricht dem Auftreten schiefer Streifen in den zellularen Automaten der vierten Klasse.

Entsprechendes gilt für die zeitliche Wirkung, die beim Prototyp der zellularen Automaten streng kausal ist und nur den Einfluß von einer Generation auf die nächste kennt. Eine Wirkung, die von einer Zelle auf die andere ausgeübt wird, bedarf also der Anregung aller dazwischenliegenden Generationen. Das räumliche und zeitliche Nahwirkungsgesetz bringen es mit sich, daß von bestimmten Zellen Einflüsse nur innerhalb eines bestimmten begrenzten Raumes ausgeübt werden können, ebenso wie eine Wirkung auf eine Zelle nur aus einem beschränkten Bereich kommen kann. Diese Tatsache entspricht dem Einsteinschen Kegel, der bei den zellularen Automaten als Dreieck entartet, an dessen Spitze, oben oder unten, die betrachtete Zelle sitzt: jene, von der die Wirkung ausgeht, oder jene, auf die sie sich richtet. Ebenso ergibt sich eine der Lichtgeschwindigkeit entsprechende Größe, und zwar als Folge der Taktzeit, während der sich die Wirkung von der einen Generation zur nächsten überträgt.

In Anlehnung an das Vorbild der klassischen Mechanik stellt sich die Frage nach der Reversibilität der Abläufe. Wie man sich überzeugt, ist diese normalerweise nicht gegeben - aus dem Folgezustand läßt sich der vorhergegangene nicht rekonstruieren, oder, anders ausgedrückt, verschiedene Verteilungen in einer Generation können zu ein und derselben Verteilung in der nächsten führen. Andererseits ist es möglich, die Algorithmen so einzurichten, daß der Prozeß auch in die umgekehrte Richtung laufen kann. Wie Ed Fredkin gezeigt hat, ist das speziell dann der Fall, wenn man das Prinzip des zellularen Automaten ein wenig erweitert, und zwar so, daß nicht nur die Generation der Vergangenheit, sondern auch jene der Vorvergangenheit auf die Zellen einwirkt. Der einfachste Fall ist durch folgende Gleichungen beschrieben:


Dann existiert stets auch ein reziproker Algorithmus, der leicht berechenbar ist:


Dadurch ergibt sich eine Entsprechung zur klassischen Mechanik, bei der die Ortsangabe auch noch nicht zur Festlegung des Folgezustands genügt, vielmehr benötigt man auch eine Information über die Veränderung, wozu man üblicherweise die Geschwindigkeiten oder Impulse verwendet. Dadurch, daß neben der Vergangenheit auch die Vorvergangenheit berücksichtigt wird, geht auch die Veränderung in das Kalkül ein.

Vorausbestimmung oder Zufall

Die bisher betrachteten Konzepte sind rein deterministisch, der Verlauf ist durch die Anfangsbedingungen unveränderbar festgelegt. Aufgrund der Äquivalenz der zellularen Automaten mit der Turing-Maschine muß er aber nicht unbedingt berechenbar sein. Es ist denkbar, daß die physikalischen Prozesse, die durch die Naturgesetze beschrieben werden, nie zu einem Ende kommen - daß wir es also mit einem zellularen Automaten zu tun haben, der zwar deterministisch abläuft, aber nicht berechenbar ist. Philosophisch interessierte Kreise, die einen Einfluß von Zufall auf das Weltgeschehen nicht akzeptieren wollen, vermuten in dieser Tatsache die Erfüllung des Wunsches nach einer Welt, die nach strengen Ordnungen abläuft und doch stets Unerwartetes und Neues hervorbringt. Die dadurch auftretende Innovation entspricht dem Chaos der Chaostheorie, das nicht auf echtem Zufall beruht, sondern auf Nichtberechenbarkeit.

Ein solcher Zufall ist allerdings von jenem der Quantentheorie zu unterscheiden, bei dem es sich um einen prinzipiell indeterministischen Vorgang handelt; in dieser Annahme stimmen die meisten theoretischen Physiker trotz mancher Meinungsverschiedenheiten überein. Eine endgültige Entscheidung in dieser Frage wird wohl noch auf sich warten lassen, doch ist es durchaus möglich, auch diesen Fall mit zellularen Automaten zu untersuchen. Das kann durch die Einführung zufälliger Änderungen - gewissermaßen Mutationen - in die Algorithmen geschehen, doch ist es noch einfacher, die irreguläre Störung dadurch einzubauen, daß während des Ablaufs die Zustände an verschiedenen Orten willkürlich geändert werden - der Zufall wird also gewissermaßen eingestreut. Im Programm braucht man dazu nur einige zusätzliche Zeilen einzuführen, die einen Zufallsgenerator enthalten.

Aufschlußreich ist nun der Vergleich zwischen ungestörten und gestörten Abläufen.bei einem und demselben zellullaren Automaten (siehe die Abbildungen). Es ist zu erkennen, daß durch den Einsatz des Störfaktors eine Art Auseinandersetzung, ein Wettbewerb zwischen Ordnung und Unordnung, initiiert wird. Es gibt zellulare Automaten, die offenbar einen starken Trend zur Durchsetzung ihres Formenschatzes haben, und denen es damit leicht fällt, die Keimzellen des Chaos zu unterdrücken. Auf der anderen Seite gibt es solche, die schon durch einen geringfügigen Anteil von Zufall aus dem Konzept zu bringen sind, so daß auf diese Weise eine große Vielfalt verschiedener Formen entsteht. So braucht beispielsweise ein linearer zellularer Automat der Klasse 1 einen starken Zufallseinfluß zur Störung seiner Ordnung, und trotzdem wird sich die alte Ordnung rasch wieder einstellen. Dagegen genügt schon ein geringer Störeinfluß, um zu verhindern, daß der Ablauf eines Automaten der dritten Klasse in ein Gleichmaß einmündet - hier besteht die Chance, daß sich mit Hilfe des Zufalls Keimzellen zur Entstehung größerer geordneter Einheiten ergeben.

Was sich in den Bildern visuell ausdrückt, kann auch aus dem Aspekt der Information oder Komplexität gesehen werden. So stellen die irreversiblen, deterministisch ablaufenden Automaten Abläufe dar, deren Komplexität sich niemals erhöhen kann, sondern in den meisten Fällen notwendigerweise abnimmt. Das bringt es mit sich, daß die Muster immer einfacher werden, daß sie in Zyklen ausarten, den gesamten Raum füllen oder auch völlig verschwinden. Nur bei den reversiblen Abläufen bleibt die Komplexität erhalten, und Innovation kann allenfalls durch Umordnung im Sinne des deterministischen Chaos im Sinne der Chaostheorie entstehen. Die Bildung von Komplexität aber ist grundsätzlich nur bei stochastischen Modellen möglich.

Die strukturelle Vielfalt unserer Welt, wie wir sie beobachten, könnte auch einem deterministischen Modell ohne Zufallseinfluß entspringen, wenn dieses jener Kategorie zuzuordnen ist, die nichtlösbare mathematische Probleme betrifft. Da aber eine Entscheidung darüber, ob ein solcher Fall vorliegt oder nicht, unmöglich ist, bestünde stets die Möglichkeit, daß eine solche Welt früher oder später kristallin erstarrt oder sich in Chaos auflöst - etwa im Sinn des Wärmetods. Eine solche Art ist philosophisch unbefriedigend, wiewohl wir uns nicht aussuchen können, in welcher Art von Welt wir leben. Es ist recht aufschlußreich, einmal eine völlig andere Sicht einzunehmen, und zwar aus der Frage heraus: Wie muß ein Universum aufgebaut sein, das seine Strukturierungsfähigkeit mit Sicherheit für immer erhält? Die beste Lösung für diese Aufgabe ergibt sich durch die Kombination eines ohne Ende laufenden Automaten mit einer seinem Ordnungstrend angemessenen Portion von eingestreutem Zufall.

Schlußfolgerungen

Alles in allem erweisen sich zellulare Automaten als gute Veranschaulichungshilfen für die Grundordnung unserer Welt. Indem sie diese auf die einfachstmöglichen Programme zurückführen, ermöglichen sie eine stringentere Behandlung verschiedener, auch philosophisch relevanter Probleme, beispielsweise jener der Fern- und Nahwirkung, derKausalität, des Determinismus und der Entropie. Eine neue Fragestellung, die nicht zuletzt durch die Chaostheorie angeregt wurde, ist jene der Strukturbildung - denn diese offensichtliche Fähigkeit der Natur ist zweifellos von fundamentaler Bedeutung. Ein besonderer Stellenwert kommt dabei der Frage des Zufalls zu, wie er seit dem Aufkommen der Quantentheorie diskutiert wird. Eine Identifizierung unseres Universums als zellularen Automaten dritter Klasse mit Zufallseinfluß ist bisher lediglich eine Vermutung, wird aber bei künftigen Untersuchungen dieser Problematik als prinzipielle Möglichkeit in Erwägung zu ziehen sein.

(Kasten)

Algorithmen für lineare zellulare Automaten

Der für zellulare Automaten bestimmende Algorithmus gibt an, in welcher Weise die Verteilung der Zustände zur Zeit Eins aus der Verteilung der Zustände zur Zeit Null zu berechnen ist. Vorher legt man fest, wieviele Zustände es gibt und wieviele Nachbarn berücksichtigt werden. Als Funktionen können alle beliebigen mathematisch ausdrückbaren Abhängigkeiten verwendet werden, doch erweist es sich als am einfachsten, die Summe der Zustände aller berücksichtigten Nachbarn als Grundlage der Berechnung zu verwenden.

Ein Beispiel: Legt man sich auf drei benachbarte Zellen fest, wobei die betrachtete Zelle in der Mitte liegt, und beschränkt man sich auf zwei Zustände, dann kann die Summe über die Zustände aller Nachbarn, Null, Eins, Zwei oder Drei betragen. Jeder Summe wird nun einer der beiden erlaubten Zustände zugeordnet, was man durch folgendes Schema ausdrücken kann:

0 1 2 3
0 1 1 0

Diese Darstellung läßt sich leicht auf eine größere Anzahl von Nachbarn und Zuständen erweitern.

In den Bildern werden die Zustände durch Farben oder Grauwerte wiedergegeben, wobei die Zuordnung willkürlich ist und nur zur Kennzeichnung dient. Basis der Grafiken sind folgende Grundsituationen:

a) ein Startpunkt im Mittelpunkt der ersten Zeile
b) zwei Startpunkte rechts und links der Zeilenmitte
c) die erste Zeile durch Zufall besetzt.

Die Abläufe können rein deterministisch erfolgen oder durch eingestreuten Zufall gestört sein. Berücksichtigt sind nur symmetrische Abhängigkeiten, also keine Unterschiede zwischen links und rechts. Wo sich Unterschiede ergeben (Brechung der Symmetrie), sind sie auf die zufälligen Anfangsverteilungen oder auf den eingestreuten Zufall zurückzuführen.

Texte zu den Grafiken (Farbe)

Abb.1 (p7): Ein linearer zellularer Automat der Klasse 1 mit zufälliger Verteilung von Zuständen für den Start; er führt alle Zellen in den Zustand Null über. Hier wie in den folgenden Beispielen ist eine Nachbarschaftsbeziehung von fünf Zellen zugrundegelegt. Dargestellt werden die Summen über die Zustände der Zellen. Die Überführungsfunktion:

0 1 2 3 4 5
1 1 1 1 1 0

Abb.2 (p8): Derselbe Automat mit laufend eingestreutem Zufall; die auf diese Weise erzeugten neuen Startpunkte bleiben ohne Wirkung.

Abb.3 (p5): Linearer zellularer Automat der Klasse 2 mit zufälliger Verteilung von Zuständen für den Start; die Prozesse kommen rasch zum Erliegen, nur selten entsteht ein Zyklus. Die Überführungsfunktion:

0 1 2 3 4 5
0 0 1 0 0 0

Abb.4 (p6): Derselbe Automat mit eingestreutem Zufall; die neuen Startpunkte führen gelegentlich zu Zyklen, die aber durch den Zufallseinfluß bald beendet werden.

Abb.5 (p3): Ein linearer zellularer Automat der Klasse 3; zwei symmetrisch gelegene Startpunkte, Entwicklung mit Trend zu Ordnung. Gut zu erkennen ist die Verbreitung im Sinn des Einsteinschen Kegels. Die Überführungsfunktion:

0 1 2 3 4 5
0 1 1 1 0 0

Abb.6 (p4): Derselbe Automat mit leerer Startzeile und eingestreutem Zufall, der eine dem vorhergehenden Automaten gleichende, jedoch chaotisch überlagerte Struktur aufweist.

Abb.7 (p1): Ein linearer zellularer Automat der Klasse 4 mit zufälliger Verteilung von Zuständen für den Start; er bildet unvorhersehbare komplexe Konfigurationen, die aber auch in Zyklen übergehen oder zum Erliegen kommen können. Die Überführungsfunktion:

0 1 2 3 4 5
1 1 0 1 0 0

Abb.8 (p2): Derselbe Automat mit eingestreuten Zufall, der bewirkt, daß sich immer wieder neue Strukturen bilden, aber auch wieder gestört werden.

Abb.9 (p16): Ein linearer zellularer Automat mit Berücksichtigung von sieben Nachbarn, vermutlich der Klasse 4. Startzeile mit Zufallsverteilung von Zuständen. Er führt zur Bildung einer komplexen Ordnung. Die Überführungsfunktion:

0 1 2 3 4 5 6 7
0 0 1 1 0 1 0 0

Abb.10 (p17): Derselbe Automat mit eingestreutem Zufall, der zu einem Gleichgewicht zwischen Ordnung und Zufall führt.

Farbskala für die Abbildungen 1 bis 6:

0 schwarz
1 beige
2 hellblau
3.....gelb
4 dunkelbraun
5 dunkelgrau

Farbskala für die Abbildungen 9 und 10:

0 schwarz
1 beige
2 braun
3.....gelb
4 dunkelbraun
5 dunkelgrau

Farbskala für die Abbildungen 7 und 8:

0 schwarz
1 beige
2 hellblau
3.....gelb
4 dunkelbraun
5 dunkelgrau
6 rot
7 blaßlila

Texte zu den Grafiken (schwarz/weiß)

Abb.1 (p15): Ein linearer zellularer Automat der Klasse 1 mit zufälliger Verteilung von Zuständen für den Start; er führt alle Zellen in den Zustand Null über. Hier wie in den folgenden Beispielen ist eine Nachbarschaftsbeziehung von fünf Zellen zugrundegelegt. Dargestellt werden die Zustände der Zellen, u.zw. weiß für null und schwarz für eins. Die Überführungsfunktion:

0 1 2 3 4 5
1 1 1 1 1 0

Abb.2 (p16): Derselbe Automat mit laufend eingestreutem Zufall; die auf diese Weise erzeugten neuen Startpunkte bleiben ohne Wirkung.

Abb.3 (p13): Linearer zellularer Automat der Klasse 2 mit zufälliger Verteilung von Zuständen für den Start; die Prozesse kommen rasch zum Erliegen, nur selten entsteht ein Zyklus. Die Überführungsfunktion:

0 1 2 3 4 5
0 0 1 0 0 0

Abb.4 (p14): Derselbe Automat mit eingestreutem Zufall; die neuen Startpunkte führen gelegentlich zu Zyklen, die aber durch den Zufallseinfluß bald beendet werden.

Abb.5 (p11): Ein linearer zellularer Automat der Klasse 3; mit zufälliger Verteilung von Zuständen für den Start, Entwicklung mit Trend zu Ordnung. Gut zu erkennen ist die Verbreitung im Sinn des Einsteinschen Kegels. Die Überführungsfunktion:

0 1 2 3 4 5
0 1 1 1 0 0

Abb.6 (p12): Derselbe Automat mit mit zufälliger Verteilung von Zuständen für den Start und eingestreutem Zufall, der eine dem vorhergehenden Automaten gleichende, jedoch chaotisch überlagerte Struktur aufweist.

Abb.7 (p9): Ein linearer zellularer Automat der Klasse 4 mit zufälliger Verteilung von Zuständen für den Start; er bildet unvorhersehbare komplexe Konfigurationen, die aber auch in Zyklen übergehen oder zum Erliegen kommen können. Die Überführungsfunktion:

0 1 2 3 4 5
1 1 0 1 0 0

Abb.8 (p10): Derselbe Automat mit eingestreutem Zufall, der bewirkt, daß sich immer wieder neue Strukturen bilden, aber auch wieder gestört werden.

Die Bilder sind in der Originalveröffentlichung - siehe unten - wiedergegeben.

Literatur

[1] J. v. Neumann: The theory of self-reproducing automata. In: A. W. Burks: Essays of cellular automata. University of Illinois Press. Urbana 1970.
[2] E. Berlekamp, J. Conway, R. Guy: Gewinnen - Strategien für mathematische Spiele. Vieweg. Braunschweig 1985.
[3] St. Wolfram: Universality and complexity in cellular automata. In: Farmer u.a.: Cellular automata . Proceedings of an interdisciplinary workshop Physica 10D, 1984.
[4] St. Wolfram: Theory and Applications of Cellular Automata. World Scientific. Singapore 1986.
[5] Ch. G. Langton: Life at the Edge of Chaos. In: Ch. G. Langton u.a.:Artificial Life II. Addison-Wesley. Redwood City 1991.
[6] R. Herken (Hrg.): The Universal Turing Machine. A Half-Century Survey. Kammerer und Unverzagt. Hamburg, Berlin 1988.
[7] M. Gerhard, H. Schuster. Das digitale Universum. Zelluläre Automaten als Systeme der Natur. Vieweg. Braunschweig, Wiesbaden 1995.
[8] E. F. Codd: Cellular Automata. Academic Press. New York 1968.
[9] N. Margolus: Physics-like models of computation. In: Farmer u.a.: Cellular automata . Proceedings of an interdisciplinary workshop. Physica D10, 1984.
[10] K. Zuse: Rechnender Raum. Vieweg. Braunschweig 1969.
[11] G. Wunsch: Zellulare Systeme.Vieweg. Braunschweig 1977.
[12] R. Hedrich: Komplexe und fundamentale Strukturen. BI Wissenschaftsverlag. Mannheim,Wien, Zürich 1990.
[13] H. W: Franke: Die Welt als Programm. Naturwissenschaftliche Rundschau 45. Stuttgart 1992.

------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------ Abdruck einer Veröffentlichung, die im Heft 9/1996 in der "Naturwissenschaftlichen Rundschau" erschienen ist - Copyright H.W. Franke 1997